Weekly reports of TRANSDRIFT VI

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Tiksi, 17. April 1999 (-19°C, stark bewölkt)

Bei strahlendem Sonnenschein, kräftigem Wind und -19°C haben wir heute während der offiziellen Sicherheitseinweisung für die Hubschrauberflüge zum ersten Mal einen Eindruck davon bekommen, was es wirklich bedeutet, im Winter in der Arktis zu arbeiten. Gut, daß wir alle ausreichend Polarkleidung dabei haben. Da sich die russische und die deutsche Polarkleidung sehr gut ergänzen, hat mittlerweile ein reger Tauschhandel zwischen den Expeditionsteilnehmern begonnen, der immer wieder zu amüsanten Verwechslungen führt.

Für die elf deutschen Teilnehmer begann die TRANSDRIFT-VI-Expedition ja bereits am Dienstag, den 6. April, da wir aus logistischen Gründen mit unserer gesamten Expeditionsausrüstung über Skandinavien nach Rußland reisen mußten. So begann die Reise zunächst mit einem deutschen Reisebus am späten Abend in Kiel. Am nächsten Morgen wurden wir dann von einem russischen Reisebus in Helsingborg erwartet. Nach einer umfangreichen Umladeaktion, immerhin mußten fast 4 t Gepäck von einem Bus in den anderen geladen werden, ging es dann weiter über Stockholm und Helsinki, wo unsere Expeditionsfracht in einen russischen LKW umgeladen werden mußte, nach Sankt Petersburg. Insgesamt hat die achtundvierzigstündige Reise nach Sankt Petersburg sehr viel Kraft gekostet, aber wir alle waren schließlich doch froh, daß wir diesen komplizierten Weg gewählt hatten, da der Grenzübertritt nach Rußland völlig problemlos verlief. Die folgenden drei Tage in Sankt Petersburg vergingen wie im Fluge. So waren alle damit beschäftigt, noch letzte Expeditionsvorbereitungen wie Zollformalitäten und das Einkaufen von Lebensmitteln durchzuführen und sich langsam auf den bevorstehenden Winter einzustellen. In der Nacht zum Montag, den 11. April startete dann das Charterflugzeug, eine AN 76, um 03:00 Uhr mit vier deutschen und drei russischen Teilnehmern in Richtung Tiksi, wo sie nach einer kurzen Zwischenlandung in Chatanga um ca. 16:00 Uhr eintrafen. Da nicht genügend Platz in diesem Charterflugzeug vorhanden war, mußten die anderen siebzehn Expeditionsteilnehmer kurz entschlossen am nächsten Tag mit dem regulären Flug von Sankt Petersburg über Moskau nach Tiksi fliegen. Unsere lange und z. T. etwas komplizierte Anreise verlief jedoch fast planmäßig, so daß wir in Tiksi ausreichend Zeit hatten, unsere Stationsarbeiten vorzubereiten.

Tiksi, eine kleine Hafenstat mit 7.000 Einwohnern im Norden von Jakutien, zeigt sich im Winter von seiner besten Seite. Die mit Schnee bedeckten bunten Häuser vermitteln eine schöne Atmosphäre, so daß wir den Frühling in Deutschland nur wenig vermissen. Wir wohnen im Hotel Sapoljarje in der Nähe des Hafens. Hier haben wir drei große Wohnungen gemietet, in denen wir uns sehr wohl fühlen. Seit gestern haben wir auch Telefon und Fax (007 41167 52479), so daß wir jetzt jederzeit zu erreichen sind. Für unser leibliches Wohl sorgt die Kantine der Grundschule in Tiksi. Hier bekommen wir Frühstück und Abendessen, und Marina und Natascha überraschen uns dabei immer wieder mit ihren Kochkünsten. Da das Hotel ca. 15 Minuten von dieser Kantine entfernt liegt, bewegt sich morgens und abends eine für die Einheimischen etwas seltsame Karawane von 23 Wissenschaftlern, die entsprechend den Temperaturen entweder in Rot oder Blau gekleidet sind, durch Tiksi. Unsere Labors haben wir im Hydrographischen Institut eingerichtet. Hier wurden uns zwei große Laborräume zur Verfügung gestellt, in denen wir sehr gute Arbeitsbedingungen haben.

Die Stimmung ist sehr gut, und wir freuen uns auf die Stationsarbeiten, die heute in der östlichen Laptewsee, ca. 200 km nördlich von Tiksi, begonnen haben.

Herzliche Grüße aus Sibirien,

H. Kassens und alle Expeditionsteilnehmer

 

Tiksi, 27. April 1999 (-14°C, sonnig)

Seit Sonntag wird es so langsam Frühling in Tiksi: Die Leute flanieren auf den Straßen, es wird nicht mehr dunkel und einige Vögel sind auch schon zurückgekehrt. Während der Stationsarbeiten, die wir ca. 300 km nördlich von Tiksi in der Laptewsee durchführen, merken wir allerdings nichts von dem herannahenden Frühling. Hier ist es immer noch bitter kalt, so daß wir fast alle Forschungsarbeiten in Zelten durchführen müssen. Wir fliegen jeden Tag in Richtung Laptewsee, damit wir in der verbleibenden, leider nur noch kurzen Zeit unser umfangreiches Forschungsprogramm durchführen können. Ziel unserer täglichen Hubschrauberflüge ist die Laptewsee-Polynja, eine Oase inmitten der unendlichen Eiswüste des Nordpolarmeeres. Die Polynja ist eine bis zu acht Kilometer breite und mehrere hundert Kilometer lange eisfreie Wasserfläche, in der große Mengen von Meereis gebildet werden, die das mächtige Festeis (bis zu 220 cm) im Süden vom Drifteis im Norden abgrenzt. Hier führen wir ein umfangreiches, fächerübergreifendes Forschungsprogramm durch, um Eisbildungsprozesse und Umweltbedingungen zu studieren. Dazu werden vor Ort Messungen und Beobachtungen im Eis, in der Wassersäule und am Meeresboden durchgeführt sowie zahlreiche Proben genommen, die zum Teil gleich nach den Stationsarbeiten in den Labors des Hydrographischen Institutes von Tiksi analysiert werden.

Am eindrucksvollsten sind unsere Arbeiten im Übergangsbereich zwischen dem Festeis und dem eisfreien Bereich der Polynja, die uns jeden Tag mit neuen Ergebnissen äberraschen. So haben wir unsere Messungen im offenen Wasser zu Beginn der Expedition noch mit einem Schlauchboot durchführen können. Wenige Tage später war dies jedoch nicht mehr möglich, weil sich dort eine bis zu 20 cm mächtige Neueisdecke gebildet hatte. Ebenfalls verändert hatten sich in der Zwischenzeit die hydrographischen Verhältnisse, was vor allem den Ozeanographen viel Kopfzerbrechen bereitet hat. Während der folgenden Tage sollten nun weitere Untersuchungen zeigen, was sich am Eisrand in so kurzer Zeit alles verändert hat. Hier gab es allerdings ein Problem bei der Probennahme, da das neu gebildete Eis zum Teil sehr dünn war, so daß wir es nicht betreten konnten. Die Ozeanogaphen haben sich deshalb etwas Besonderes für die Probennahme auf dem dünnen Eis ausgedacht. So kam am 26. April zum ersten Mal der Schlauchbooteisbrecher IB AVON zum Einsatz, der mit zwei Paddeln und einem Beil angetrieben wurde. Nach einem an den Kräften zerrenden zweistündigen Einsatz konnte schließlich eine Strecke von ca. 200 m zurückgelegt werden. Belohnt wurde dieser Einsatz durch vier einzigartige Meßprofile, die zur Zeit ausgewertet werden. Sehr interessante Ergebnisse haben in diesem Zusammenhang auch die meereschemischen und biologischen Untersuchungen gezeigt. Mit der Untereiskamera konnten zum Beispiel bis zu einem Meter lange Eisalgenfäden (Melosira) beobachtet werden, die das Neueis bereits nach kurzer Zeit, wenn auch noch nicht voll ausgebildet, besiedelt haben. In der Wassersäule sah es zunächst so aus, als ob das Leben hier noch nicht zurückgekehrt sei. Doch im Bereich der Sprungschicht sowie oberhalb des Meeresbodens stiegen die Nährstoffgehalte und die Anzahl von Kleinstlebewesen wie Pfeilwürmer, Flohkrebse und Ruderflußkrebse plötzlich deutlich an. Laboruntersuchungen im Anschluß an die Expedition sollen zeigen, warum sich im oberflächennahen Bereich der Wassersäule keine Lebensgemeinschaften ausgebildet haben.

Heute wurden Vergleichuntersuchungen im Drifteis durchgeführt. Dazu mußten wir weit in den Norden fliegen. Wegen des begrenzten Treibstoffvorrates an Bord der Hubschrauber konnten nur elf Wissenschaftler mitfliegen, die das gesamte Arbeitsprogramm bis in die späte Nacht durchgeführt haben. Am Donnerstag ist wieder eine Tagesstation geplant, an der dann zwanzig Wissenschaftler teilnehmen werden.

Uns geht es sehr gut und die Stationsarbeiten waren bisher sehr erfolgreich. Seit Sonntag taut nun auch das Eis von unseren Fenstern, jedenfalls am Tage, so daß nun auch das Laborteam in Tiksi die schöne Landschaft und die herrlichen Sonnenuntergänge genießen kann.

Herzliche Grüße aus Sibirien,

H. Kassens und alle Expeditionsteilnehmer

 

Tiksi, 04. Mai 1999 (-7°C, Nebel)

Stromausfall: Am 28. April hat es im Kraftwerk von Tiksi gebrannt, so daß wir seitdem Probleme mit der Strom-, Wasser- und Heizungsversorgung haben. Aber wir alle haben uns schnell auf die neue Situation eingestellt, so daß unser Forschungsprogramm fast ohne Einschränkungen fortgesetzt werden konnte. Es ist immer wieder erstaunlich, wieviel man hier durch geschickte Improvisation erreichen kann.

Wir haben Besuch: Am 30. April ist das Team der LENA'99-Expedition in Tiksi eingetroffen. Die elf Wissenschaftler aus Potsdam, Kiel, Sankt Petersburg, Moskau und Jakutsk werden während der nächsten drei Wochen fächerübergreifende Umweltuntersuchungen im nördlichen Lena-Delta und auf einer kleinen Insel in der Lena (Polarstation Samojlow) durchführen. Die erste Gruppe mit neun Wissenschaftlern ist bereits einen Tag nach ihrer Ankunft aufgebrochen, weil vor ihnen ein weiter Weg bis in das Arbeitsgebiet liegt (ca. 1 Woche). Polarstationen gibt es hier nicht mehr, deshalb haben sie ihre Unterkunft gleich mitgenommen. Es ist ein gelbes Holzhaus mit einer beheizten Küche, einem Aufenthaltsraum und Schalfmöglichkeiten fär zehn Personen, welches auf einen Schlitten montiert wurde. Bei ihrer Abreise erinnerten wir uns irgendwie an das Buch Jim Knopf und die Lokomotive. Die zwei Wissenschaftlerinnen, die morgen zur Polarstation Samojlow aufbrechen werden, haben sich in der Zwischenzeit durch ihren tatkräftigen Einsatz bei unseren Stationsarbeiten als Teilnehmer der TRANSDRIFT-Expedition bewährt. Fazit: So etwas sollten wir öfter machen, denn wir alle können viel voneinander lernen.

Marktlücke: Gelohnt haben sich sicherlich die vielen Bastelstunden der Permafrostgruppe im Vorfeld der Expedition. So wurde eine hochempfindliche Miniaturmeßsonde entwickelt, die vom Eis eingesetzt vertikale Temperaturprofile im Meeresboden registrieren kann. Insgesamt konnte die Meßsonde auf allen Stationen erfolgreich eingesetzt werden, so daß jetzt ein umfangreicher Datensatz über die Temperaturverteilung am Meeresboden vorliegt. Besonders interessant sind dabei Meßprofile in geringen Wassertiefen (8,5 m), die eine überraschende Zunahme der Meeresbodentemperatur mit der Teufe (0,06 C pro Meter) zeigen. Erste Vergleiche mit Ergebnissen der TRANSDRIFT-V-Expedition (hier wurde eine schwere und ca. 6 m lange Sonde eingesetzt) verraten bereits jetzt, daß auch am Meeresboden saisonale Temperaturschwankungen auftreten könnten. Welche Auswirkungen solche Schwankungen auf die Ablagerungsbedingungen haben können, sollen anschließende Laboruntersuchungen zeigen. Wichtig sind dabei mikrobiologische Untersuchungen, für die zahlreiche Sedimentproben genommen wurden.

Theorie und Praxis: Bereits seit vielen Jahren versuchen Wissenschaftler, die Prozesse im Bereich der Laptewsee-Polynja mit Hilfe von theoretischen Modellen zu beschreiben. Unsere Felduntersuchungen werden deshalb wichtige Eckpunkte für die Verläßlichkeit dieser Modelle liefern. Von besonderem Interesse sind dabei ozeanographische und meereschemische Ergebnisse, die jedoch eher vermuten lassen, daß sehr viel umfangreichere Modelle entwickelt werden müssen, damit wir dieses Umweltsystem verstehen können. Unser bescheidener Datensatz ist dafür sicherlich nur ein Anfang. Beim Abendessen werden deshalb bereits Pläne für eine weitere Winterexpedition geschmiedet. So könnten Langzeituntersuchungen am Festeisrand einen tieferen Einblick in die komplexen und sehr variablen Prozesse geben. Dennoch wurden unsere Erwartungen bisher weit übertroffen. Bis heute haben wir unser Arbeitsprogramm an 21 Stationen erfolgreich durchführen können, und die Stationswünsche nehmen kein Ende. Im Mittelpunkt steht dabei der Übergangsbereich vom Festeis zur Polynja, der sich ständig verändert und in dem Neueis, begleitet von mystischen Geräuschen, direkt vor unseren Augen gebildet wird. Die Tiere scheinen sich in unwirtlichen sehr wohl zu fühlen, so daß wir immer wieder auf Eisbären- und Polarfuchsspuren stoßen. Da wir nur noch drei Tage im Gelände arbeiten können, war heute deshalb die Enttäuschung besonders groß, weil dichter Nebel den Abflug des Hubschrauberteams verhindert hat.

Am Montag werden wir Tiksi verlassen und mit einem Charterflugzeug nach Sankt Petersburg fliegen. Wir haben hier eine schöne und vor allem interessante Zeit verbracht, die wir wohl nie vergessen werden. In Tiksi gehören wir mittlerweile zum normalen Leben, und heute geben die Schulkinder sogar ein Abschiedskonzert für uns.

Herzliche Grüße aus Sibirien,

H. Kassens und alle Expeditionsteilnehmer