Weekly Reports of TRANSDRIFT I

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Archangelsk, den 31. Juli 1993

Liebe Freunde und Kollegen in Deutschland,

Sonnenschein, 30°C, hohe Luftfeuchtigkeit und dazu noch viele Mücken, nein, wir sind nicht in den Subtropen, sondern im Land der Pomoren, ca. 3.000 km nordöstlich von Kiel.

Unsere Anreise zum Forschungsschiff IVAN KIREYEV verlief über Sankt Petersburg, wo wir von unseren russischen Kollegen zu einem gemeinsamen Abendessen erwartet wurden. Am nächsten Mittag erreichten wir pünktlich Archangelsk. Hier begrüßten uns die russischen Expeditionsteilnehmer, um mit uns zur IVAN KIREYEV zu fahren. Zu unserer Freude waren kurz vorher unsere Container eingetroffen.

Die IVAN KIREYEV, vor siebzehn Jahren in Finnland gebaut, ist eines von sechs ozeanographischen Forschungsschiffen des Hydrographic Department in Archangelsk. Das Schiff hat unsere Erwartungen weit übertroffen. So erinnern Ausstattung und Atmosphäre an die POSEIDON oder die alte METEOR.

Den bisherigen reibungslosen Expeditionsverlauf haben wir vor allem der guten Organisation der Kollegen vom Hydrographic Department in Archangelsk und vom Arctic and Antarctic Research Institute in Sankt Petersburg zu verdanken.

Die Tage vor dem Auslaufen verbrachten wir damit, frisches Obst und Gemüse einzukaufen, was aufgrund der komplizierten Versorgungslage nicht ganz einfach war. Auch hierbei war uns das organisatorische Talent unseres deutsch-russischen Technikers eine große Hilfe.

Am 1. August werden wir auslaufen, um nach ca. zwölf Tagen Nordostpassage unser Arbeitsgebiet, die Laptewsee, zu erreichen. Die Eisvorhersagen für die Passage sind positiv, so daß wir sehr zuversichtlich sind.

Die Stimmung an Bord könnte nicht besser sein, und wir alle freuen uns auf die erste deutsch-russische Schiffsexpedition in die Laptewsee. Außerdem steht diese Expedition unter einem besonderen Stern, da in diesem Jahr das sechzigjährige Jubiläum der Nordostpassage gefeiert wird.

Herzliche Grüße,

H. Kassens und Team

 

An Bord IVAN KIREYEV, 9. August 1003

Liebe Freunde und Kollegen in Deutschland,

unser weiterer Aufenthalt in Archangelsk war geprägt durch banges Warten auf einen LKW aus Sankt Petersburg. Dieser LKW, beladen mit der gesamten Expeditionsausrüstung der russischen Kollegen und einem Teil von unserem Gepäck, sollte eigentlich am 30. Juli in Archangelsk eintreffen. Als der LKW am 1. August immer noch nicht eingetroffen war, sank die allgemeine Stimmung auf einen Tiefpunkt. Ablenkung schaffte erst die Geburtstagsfeier einer russischen Kollegin, die uns allen wohl noch lange in Erinnerung bleiben wird.

Am Morgen des 2. Juli war es endlich soweit, der LKW war eingetroffen, und um 12:20 Uhr konnte die IVAN KIREYEV auslaufen. Flußabwärts der Dwina, vorbei an malerischen Birkenwäldern, zahlreichen Anlegestellen und Flößereien, gelangten wir schnell ins Weiße Meer. Entlang der Nordostpassage dampften wir dann zügig durch die Barents- und Karasee. Das von uns mitgebrachte GPS garantierte dabei eine zuverlässige Navigation, die selbst den Kapitän überzeugte. So fährt die IVAN KIREYEV jetzt hauptsächlich nach GPS. Einen beklemmenden Anblick auf der ansonsten schönen Reise boten allerdings die allzu gut erhaltenen Reste eines Verbannungslagers aus Stalins Zeiten südlich von Nowaja Semlja.

Verteilung der Labors und deren Einrichtung und Arbeitsbesprechungen prägen zurzeit unseren Alttag. So zwingt das an Bord vorhanbdene Platzangebot ständig zu einer rationellen Nutzung der Räumlichkeiten. Gut, daß zwei kleine Laborcontainer mitgenommen wurden! Die detaillierte Stationsplanung für die nächsten Wochen erfolgte gemeinsam mit den russischen Wissenschaftlern, der Kartenfundus des Kapitäns bot dabei wertvolle Unterstützung und ist ein wahrer Schatz! Überraschend für uns alle ist der rege Informationsaustausch – ein hoffnungsvoller Beginn der multidisziplinären deutsch-russischen Zusammenarbeit.

Am Sonnenschein änderte sich bisher nichts, wohl aber an den Temperaturen. Die See war allgemein ruhig, doch auch bei hoher Dünung lag die IVAN KIREYEV souverän im Wasser. Am 6. August, früher als erwartet, passierten wir die Eisgrenze südöstlich von Dikson, wo die IVAN KIREYEV trotz eines Meters Eisbedeckung problemlos ihrem Kurs folgte. In der Wilkizkistraße wartete bereits der Atomeisbrecher TAYMYR auf uns, um uns durch das Eis zu begleiten. Im Kielwasser der TAYMYR, die später von der ROSSIYA abgelöst wurde, fahren wir bis in die östliche Laptewsee.

Herzliche Grüße,

H. Kassens und Team

 

21. August 1993

Liebe Freunde und Kollegen,

dank guter Wetterverhältnisse, eines erfahrenen Kapitäns und der Hilfe von zwei Eisbrechern haben wir die Nordostpassage bis in die Laptewsee in nur neun Tagen durchquert. So konnten unsere Stationsarbeiten in der Chatanga-Mündung bereits am 10. August 1993 beginnen. Entlang des Eisrandes und in Küstennähe haben wir seitdem ein umfangreiches Arbeitsprogramm durchgeführt. Auf zwanzig Stationen konnten wir sowohl die Wassersäule (Wasserschöpfer, CTD, Multinetz und Bongo) als auch den Meeresboden (Fotoschaukel, Dredge, Kastengreifer und Kastenlot) untersuchen. Außerdem wurden Side-Scan-Sonar-Profile gefahren und großvolumige Wasserprobem vom Beiboot der IVAN KIREYEV aus entnommen.

Hervorzuheben ist der Einsatz der Besatzung und der Wissenschaftler, die trotz eisiger Kälte, Schnee, Wind und Nebel unermüdlich bei der Arbeit sind.

Überraschend und vielversprechend sind die ersten Ergebnisse. So lassen Planktonblüte, Artenreichtum und interessante Artengemeinschaften sowie Eispflugmarken, gefrorene Sedimentkerne und Eisen-Mangan-Krusten am Meeresboden alle Biologen- und Geologenherzen höher schlagen. Eisberge, Eisbären, Walrösser, Robben und Seevögel lenken dabei von der täglichen Stationsarbeit ab.

Die Neugier auf die weiteren Stationen im Lena-Delta und die familiäre Stimmung auf der IVAN KIREYEV lassen uns zuversichtlich in die nächste Woche blicken.

Herzliche Grüße,

H. Kassens und Team

 

29. August 1993

Liebe Freunde und Kollegen,

nachdem wir den ersten Fahrtabschnitt erfolgreich abgeschlossen haben, sind wir am 26. August in Tiksi eingelaufen, um Wasser, Diesel und Lebensmittel zu bunkern. Unser Aufenthalt in Tiksi (Jakutien), einer fast vergessenen Hafenstadt mit ca. 10.000 Einwohnern, war sehr eindrucksvoll und informativ. So konnten vielversprechende neue Kontakte zu Wissenschaftlern vom Biologischen und Hydrographischen Institut geschlossen werden. Gut gerüstet für den letzten Fahrtabschnitt haben wir Tiksi am 27. August verlassen, um unsere Stationsarbeiten östlich des Lena-Deltas fortzusetzen.

Nach vielen vergeblichen Versuchen während der letzten Wochen haben wir seit Tiksi endlich Funkkontakt zur POLARSTERN. Die POLARSTERN wird wahrscheinlich in wenigen Tagen in der Laptewsee eintreffen, so daß wir unsere weitere Fahrtplanung gemeinsam absprechen können.

Fast sommerliche Wetterverhältnisse mit viel Sonnenschein und Temperaturen um den Gefrierpunkt machen nicht nur die Stationsarbeiten einfacher, sondern erlauben uns auch, sportlich aktiv zu werden. So gehört Volleyball, nach russischem Patentrezept, zur beliebtesten Ablenkung von den täglichen Stationsarbeiten.

Herzliche Grüße,

H. Kassens und Team